Und was jetzt? Wäre ich mir doch nur sicher!

Die Corona Maßnahmen werden weiter gelockert. Endlich wieder mehr Normalität, gefühlte Erleichterung. Aber dann entstehen immer wieder Hotspots und Sorge kommt auf. Gehen meine Mitmenschen verantwortungsvoll mit den neuen Möglichkeiten um?

Vor lauter unterschiedlichen Meinungen zu dem Thema weiß man manchmal selbst nicht mehr, was man denken soll. Vielleicht war es sogar besser und einfacher, als die Bestimmungen noch strenger waren. Ach nein, das dann doch nicht! Aber wie denn nun?

Gehen bei Ihnen auch manchmal die Gedanken in dieser Weise hin und her? Themen des beruflichen Kopfkinos könnten sein:

  • Will ich die Umstellungen ins Homeoffice beibehalten oder lieber zurück in die alte Realität?
  • Ich habe durchaus Empathie für die Mehrfachbelastungen meiner Mitarbeitenden in diesen Zeiten, aber wir müssen doch dennoch unsere wirtschaftlichen Ziele erreichen.
  • Mir werden Belastung und Verantwortung zu viel! Aber ich wollte doch immer einen herausfordernden Job!
  • Wie halte ich Balance zwischen beruflicher Verantwortung und Fürsorge für mich selbst und meine Familie?
  • Sollten wir in Zukunft mehr auf Nachhaltigkeit oder auf Effizienz setzten?

Zum Menschsein gehört dieses ständige Hintergrundrauschen der Widersprüchlichkeit unserer Gedanken, Gefühle und Sehnsüchte dazu. Ambivalenz ist ein natürlicher Teil unserer psychischen Realität. Immer wieder begegnen uns einander widerstrebende Gefühle gegenüber Personen, Sachen und Ideen.

Muss das denn sein?

Der Begriff Ambivalenz ist recht jung. 1910 wurde er von dem Schweizer Psychologe Eugen Bleuler als Kunstwort aus dem lateinischen „ambo“ für „beide“ und „valens“ für „gelten“ gebildet.

Auch wenn uns diese Zerrissenheit immer wieder einen anstrengenden, inneren Spannungszustand beschert, ist sie durchaus hilfreich. Als Erbe der Evolution entstehen in unserem ältesten Hirnareal, dem limbischen System, intensive Affekte (Wut, Angst, Trauer, …).

Diese Prozesse sind so schnell, dass unser Großhirn nicht mitkommt. Die rationale Analyse erfolgt erst später und das ist vorteilhaft. Das Wahrnehmen der Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Emotionen und die Bewertung dessen als etwas Selbstverständliches, hält nämlich sogar gesund.

Wenn die vielen inneren Stimmen überhört, unterdrückt oder verdrängt werden, dann nur auf Kosten von Lebendigkeit und Offenheit. Der berühmte Psychiater C.G. Jung, sah in der Fähigkeit, mit Ambivalenzerfahrungen kompetent umzugehen, einen wesentlichen Motor für menschliche Reifungsprozesse.

Die Widersprüche erleben wir zunächst persönlich, als innere Spannungszustände. Gleichwohl ist Ambivalenz ebenso ein psychologisches wie gesellschaftliches und philosophisches Phänomen.

In der Moderne stehen sich laut dem 2017 verstorbenen Soziologen Z. Bauman Ambivalenz und Ordnung als „moderne Zwillinge“ gegenüber. Jede Anstrengung durch Politik sowie Naturwissenschaften, die Gesellschaft zu strukturieren und sie zu einer wohlbehüteten Ordnung zu führen, scheint paradoxerweise das Gegenteil zu provozieren.

Eine gelöste Frage wirft zig ungelöste Fragen auf und schon wächst Ambivalenz und Unordnung. Die Welt ist einfach nicht in schwarz und weiß, gut oder böse ein zu teilen. Der Versuch, in Freund- und Feind-Kategorien zu denken, Randgruppen und Schuldige zu benennen oder die ewige Wahrheit zu proklamieren führt in der Regel in den Konflikt.

Wie soll ich denn damit umgehen?

Bei der persönlichen Bewältigung von Ambivalenz geht es im ersten Schritt um die Wahrnehmung der vielfältigen Gefühle als legitimen Teil der eigenen psychischen Ausstattung.

Als nächstes ist es wichtig, diese Beobachtungen anzunehmen, ohne innerlich mit sich zu schimpfen oder sich abzuwerten. Ein freundlicher Umgang mit sich selbst, seinen persönlichen Sonnen- und Schattenseiten und den eigenen Widersprüchen hilft, all das innere Chaos nicht nur sich selbst, sondern auch anderen zuzugestehen.

Das Mitgefühl für unsere Mitmenschen ist insofern der dritte wichtige Impuls, denn wir leben in einer bunten und schattierten Welt und nicht in „Alles-oder-Nichts-Beziehungen“. Daraus kann eine Atmosphäre entstehen, in der wir unseren Kollegen gleichzeitig schätzen und von ihm genervt sein können. Beides zusammen ist die Realität und ermöglicht ein nuancenreiches Wahrnehmen von mir selbst und anderen. D.h. Einzelne, ein Team und auch die Gesellschaft benötigen die Fähigkeit der Integration von Ambivalenz und nicht die Polarisierung.

Führungskräfte als Dirigent*innen der Mehrstimmigkeit

Führungskräfte, die widersprüchliche Gefühle integrieren können, können ihr „Teamorchester“ dabei unterstützen, sich selbst und die Arbeitswelt als vielstimmig zu erleben. Dazu braucht es zunächst Sensibilität für die Fallen, in die ambivalenzunfähige Systeme und Organisationen leicht geraten.

 

Was sind diese Fallstricke?

Teams versuchen z.B. durch Abgrenzung, Ausgrenzung und Abspaltung unerwünschter Ideen, Impulse oder Personen der Widersprüchlichkeit zu entkommen. So werden. Unternehmensentscheidungen wie z. B die Initiierung von Change-Prozessen häufig im Team abgelehnt, obwohl sie rational vernünftig erscheinen. Auch das Initiieren eines Scheinkonfliktes kann die Funktion haben, die eigene innere Spannung nach außen zu entladen.

Neben eher expressiven Strategien gibt es jedoch auch defensivere Strategien. Dazu gehört zum einen das vorschnelle Einigen auf unzufrieden stellende Kompromisse. Zum anderen spielt die (Selbst-)Blockade der Entscheidungsträger*innen eine Rolle, die in der inneren Zwiespältigkeit gefangen bleiben, und dadurch das Team lähmen, anstatt Handlungsenergie aufzubauen.

 

Wie können nun Führungskräfte die Ambivalenztoleranz bei sich selbst und in ihrem Team erhöhen?

  • Das Wahrnehmen und Ernstnehmen des inneren Spannungszustandes, sowie die Kommunikation darüber ist die Ausgangsbasis für kompetentes Ambivalenzmanagement. Wenn die Widersprüchlichkeit unterdrückt wird, kommt es zu inkonsistenten Botschaften an die Mitarbeitenden und dadurch zu Orientierungslosigkeit: wie machen wir es denn jetzt richtig?
  • Die Führungskraft kann z.B. bei der Steuerung eines Meetings das Benennen der Widersprüche fördern. Das Erhöhen der inneren Spannung fördert paradoxerweise die Kreativität. Sind alle Facetten im Raum braucht es Zuversicht und Geduld, um die Lösungslosigkeit aus zu halten. Der Impuls zu einer Idee kommt sicher!
  • Die Führungskraft sollte Optimismus und Sicherheit vermitteln, um zu ermöglichen, Ambivalenz als einen Entwicklungsmotor zu erleben und nicht als Bedrohung.
  • Das sichtbar machen der Unübersichtlichkeit durch Moderationstechniken ist unterstützend, ob durch Mindmapping, Pro- und Contra-Listen oder Strukturieren am Kanban-Board.
  • Am Ende muss entschieden werden! Jedoch werden Sie es nicht schaffen, eine 100%ige Lösung zu finden. Entspannen Sie sich, notieren Sie Plan B oder C und vereinbaren Sie eine Bilanzsitzung nach einigen Wochen, um die Entscheidung zu überprüfen.

Führungskräfte, die es Teams ermöglichen, Ambivalenzen zu leben statt sie erfolglos zu bekämpfen, leisten echte Aufbauarbeit. Sie stärken die integrierenden Tendenzen in den Mitarbeitenden und damit in den Teams. Darüber hinaus fördert diese Aufbauarbeit das Miteinander in einer Welt, die immer enger zusammenrückt und friedlich mit ihrer wachsenden Widersprüchlichkeit zurechtkommen muss.

„Keine unserer Überzeugungen ist wirklich wahr,

zumindest haben sie alle den Schatten

von Unbestimmtheit und Irrtum.“

B. Russel

Text: Monika Eckern & Jürgen Vieth

Fotos: iStock

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Die Überlegungen orientieren sich an folgenden Quellen:

  • Zygmunt Bauman: Die Ambivalenz der Moderne
  • R. Miller: Motivierende Gesprächsführung
  • Müller-Christ, G.Weßling: Widerspruchsbewältigung, Ambivalenz- und Ambiguitätstoleranz