„Wir müssen reden“ – psychosoziale Nebenwirkungen der neuen Realität

„Wir müssen reden“

so begann die ARD-Korrespondentin Julie Kurz Ihren Kommentar in den Tagesthemen am 08.01.2021.

Sie verwies dabei auf die Auswirkungen der verordneten Isolation. Während in der Arbeitswelt die Kontaktregeln und Hygienemaßnahmen intensiviert werden, zeigen die Kontakteinschränkungen Folgen im Privaten.

Es ist eine immense Herausforderung für Unternehmen in der aktuellen Situation die Gesundheit ihrer Mitarbeitenden zu schützen, neue Arbeitsstrukturen zu schaffen, um die Lieferketten und die Produktion aufrecht erhalten zu können und die Kunden weiter an sich zu binden.

Während sowohl die Wirtschaft als auch die Politik bemüht sind, die verbindlich beschlossenen physischen Verhaltensregeln zum Schutz der Gesundheit umzusetzen und zum Teil sogar noch auszuweiten, gibt es keinerlei Direktiven zum Erhalt der psychischen Gesundheit.

Es wird offensichtlich, dass die Pandemie eine komplexe mentale Belastungssituation auslöst, die nur an wenigen spurlos vorüber geht. Zukunftsängste, Angst um die eigene Gesundheit und die Gesundheit anderer, zunehmende Ungewissheit über den Fortgang der Pandemie, die Kontaktbeschränkungen und die Einschränkungen der körperlichen Nähe – allesamt Bedrohungen und Herausforderungen für deren Bewältigung wir auf keinerlei Routinen zurückgreifen können.

Die Krise wird zur Gefahr für die psychische Gesundheit. Ein Anstieg an Depressions- und Stresssymptomen, Vereinsamungstendenzen, Alkoholkonsum und zunehmende Aggression gegen Kinder sind alarmierende Folgen.

 

Mehr Homeoffice

Wie veränderte Bedingungen im beruflichen Umfeld die individuellen Belastungen verstärken, zeigt sich am Beispiel des Home-Office:

Während die Politik mehr Homeoffice wünscht und gerne verordnen möchte, um die Kontakte weiter zu reduzieren, und während weite Wirtschaftsbereiche sich noch wegen der Vertrauensfrage zieren, die Homeoffice-Möglichkeiten auszubauen, werden die psychosozialen Gefahren für bestimmte Personengruppen gar nicht erst in den Fokus genommen.

Im Homeoffice verwischen die Grenzen zwischen Beruf und Privatleben endgültig. Die fehlende Tagesstruktur und die Always-On-Mentalität reduzieren die Möglichkeiten zur Distanz und erhöhen die Stressbelastung. Für Alleinlebende bedeutet der Rückzug ins Homeoffice möglicherweise den Verlust eines letzten Ankers der Eingebundenheit. Für Alleinerziehende entsteht die Notwendigkeit, Ganztagesbetreuung und Sorge für die Kinder mit Vollbeschäftigung und Produktivität unter einen Hut zu bringen. Familien müssen Homeschooling, Kinderbetreuung, eventuell noch Sorgearbeit für kranke oder pflegebedürftige Angehörige mit dem Homeoffice koordinieren.

Am Arbeitsplatz verhindern die Kontaktbeschränkungen und das Fehlen der im Homeoffice befindlichen Kolleg*innen eine konstruktive Teamarbeit und auch den wichtigen informellen Austausch. Gerade Menschen, für die die soziale Interaktion mit Kolleg*innen einen besonderen Wert darstellt und die gerade deshalb gerne zur Arbeit gehen, sind von den Kontaktbeschränkungen besonders betroffen.

Um die Produktivität ihrer Mitarbeitenden aufrecht zu erhalten, aber auch um dem Fürsorgeauftrag gerecht zu werden, sind Unternehmen jetzt gefordert, den möglichen psychosozialen Folgen ihrer Mitarbeitenden und dem zwischenmenschlichen Aspekt mehr Aufmerksamkeit zu widmen.

 

Dabei kann es nicht um schnelle oder einfache Lösungen gehen.

Es ist aber an der Zeit, Teams und Führungskräften Austauschprozesse zu ermöglichen, in denen die fachlich-sachlichen Belange in den Hintergrund gestellt werden und die individuellen Belange jedes/jeder einzelnen Vorrang haben. Es geht um einen vertieften Austausch über die subjektiv unterschiedlichen Umgänge mit der Krise, über die Belastungen, Sorgen und Ängste und erst in der Folge auch um die Unterstützung bei der Suche nach Bewältigungsstrategien: „Bevor man aus der Not eine Tugend machen kann, muss zunächst die Not benannt werden“ (Schulz von Thun).

Die Möglichkeit sich mitzuteilen, das gemeinsame Benennen von Belastung schaffen Entlastung bei den Individuen und eröffnen Chancen zur Entwicklung eines tieferen Zusammengehörigkeitsgefühls. Der Austausch über Emotionen schafft dann auch Raum für Distanz. In der Distanz wird es wieder leichter möglich, sich den eigenen Aufgaben zu widmen. Wenn die Angst gebunden wird, werden neue Kräfte freigesetzt.

 

Führungskräfte sind in der Krise besonders gefordert

Zu ihren neuen Aufgaben gehört es, all das, was durch das Fehlen des unmittelbaren zwischenmenschlichen Kontaktes im Team Lücken, und bei den Individuen aufgestaute Emotionen hinterlässt, möglichst störungsfrei zu kompensieren. Teamsteuerung auf Distanz, sensibles Eingehen auf die individuellen Belange der Mitarbeitenden, Etablieren neuer Arbeitsorganisationen und dabei die Produktivität und Zielerreichung nicht aus den Augen verlieren: Eine konstruktive Gestaltung der Führungsrolle wird in der Krise herausfordernder und komplexer. Da Führungskräfte natürlich ebenfalls mit den oben beschriebenen Situationen im familiären Bereich konfrontiert sind, ist es wenig verwunderlich, dass auch viele Führungskräfte an ihre Grenzen geraten.

Ratgeber, Seminare und Workshops, in denen Führungskräfte ihre Kompetenzen zum „Führen auf Distanz“ erweitern sollen, sind hilfreich, führen aber nicht zur emotionalen Entlastung der Führungskräfte. Geschäftsführung und Personalentwickler*innen sind also gut beraten, auch für diese Zielgruppe proaktiv Unterstützungsformate anzubieten, die zu erwartende individuelle Krisen verhindern oder zumindest abmildern können.

Ein Ende der Einschränkungen und Verordnungen ist nicht in Sicht, die möglichen Gesundheitsfolgen können über das Ende der Pandemie hinausreichen und teuer werden. Teamentwicklung, Austauschprozesse, regelmäßige Informationen über interne Entwicklungen, gesundheitsfördernde Maßnahmen, die Berücksichtigung der individuellen Lebensbedingungen, die Bereitschaft von Führungskräften, die rechtlichen Möglichkeiten wohlwollend im Sinne der besonders belasteten Mitarbeitenden zu handhaben – allesamt Maßnahmen die keine Gewähr dafür bieten, dass psychische Gesundheitsschäden verhindert werden können. Aber sie können ein Gefühl von Zugehörigkeit, Fürsorge und Verbundenheit vermitteln und dadurch zur Entlastung beitragen.

Text: Jürgen Vieth

Fotos: iStock

Externer Link: www.tagesschau.de

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