Remote Teamentscheidungen fällen – ein Blick in die Spieltheorie

Vielleicht standen Sie als Führungskraft in jüngster Vergangenheit vor einer ähnlichen Situation? Ihr Team – bestehend aus 20 Mitarbeitenden – befindet sich aktuell zur Vermeidung von Ansteckung schichtweise im Home-Office. 10 Mitarbeitende sind gleichzeitig im Büro und 10 Personen arbeiten remote, von zu Hause aus am Rechner. Die Einteilung wechselt wöchentlich. Wie sind nun wichtige Entscheidungen am klügsten zu treffen, wenn Sie nicht alle gleichzeitig zu einem Stand-Up- oder Team-Meeting bestellen können?

Ein Beispiel aus dem Arbeitsalltag

In unserem Beispiel hatte eine Abteilungsleiterin die Aufgabe, zu entscheiden, welche Mitarbeitenden, wie lange und wie umfangreich in Kurzarbeit gehen sollten. Sie war angehalten, 50% einzusparen. Wie sollte Sie in dieser Situation handeln? Aufgrund Ihres vertrauensvollen Kontaktes zu ihrem Team, wusste Sie von privaten und persönlichen Problemlagen und Nöten. Sollte sie auf dieser Grundlage individuell vorgehen und eine auf Einzelne zugeschnittene Lösung anbieten? Sollte sie einfach alle gleich behandeln? Sollte Sie diese Entscheidung selber treffen oder das Problem in das Team geben?

Was hätten Sie getan? Die Abteilungsleiterin beschloss, selbst zu entscheiden. Zunächst verhandelte sie erfolgreich mit ihrem Vorgesetzten, dass aktuell eine Einsparung von 30% ausreiche. Mit dieser Nachricht und der Idee bei den Kürzungen alle gleich zu behandeln, ging sie in ein Meeting mit dem anwesenden Teil-Team.

Zu Ihrer Überraschung fingen nun die Mitarbeitenden von sich aus an, auf die unterschiedlichen Notlagen hinzuweisen. Es herrschte eine vertrauensvolle Atmosphäre, in der sich Teammitglieder öffneten, ihre Lage schilderten oder Kolleg*innen andere ermutigten, ihre Bedürfnisse zu benennen.

Es wurde eine neue Lösung erarbeitet: Wenn 16 Mitarbeitende ihre Arbeitszeit um 37,5% reduzierten anstatt um 30%, könnten dann die vier Personen, die sich aktuell in einer privaten Notlage befinden, weiter voll arbeiten.

Ein toller Teamerfolg und ein großartiges Zeichen von Solidarität. Soweit so gut! Aber was ist mit den 10 Personen, die im Home-Office waren und sich an dieser Sitzung nicht beteiligen konnten? Nun, diese Mitarbeitenden wurden einzeln von der Abteilungsleiterin angerufen und über den Vorschlag in Kenntnis gesetzt.

Was vermuten Sie, wie die Kolleg*innen am Telefon reagiert haben? Bei den Telefonaten schlossen sich vier Personen dem Team-Vorschlag an und sechs nicht. Was ist passiert? Was unterscheidet die Situationen? Was fördert die Kooperation und was verhindert sie?

Wie kann Kooperation gelingen?

Um sich das genauer an zu sehen, könnte ein Blick durch die Brille der Spieltheorie interessant und nützlich sein. Die Spieltheorie ist eine mathematische Methode, die das rationale Entscheidungsverhalten in sozialen Konfliktsituationen untersucht. Die zentrale Frage ist: Wie entscheiden sich Menschen optimal und rational, wenn sie mit anderen Menschen interagieren, unter der Voraussetzung, dass die eigene Entscheidung nicht nur von mir selbst, sondern auch von den anderen abhängt?

So wünschen wir uns z.B. aktuell in der Corona-Krise, dass alle nur soviel einkaufen, wie sie benötigen, damit die Regale gefüllt bleiben und die Supermärkte optimal arbeiten können. Da wir dann aber doch vor halbleeren Regalen stehen, sehen wir uns vielleicht selbst veranlasst, lieber drei statt einer Packung Knäckebrot mitzunehmen.

Das Paradebeispiel der Spieltheorie ist das Gefangenendilemma. Wenn Sie sich etwas genauer darüber informieren möchten, dann klicken Sie hier.

Kooperation im Team

Hier werden uns zwei deutlich unterschiedliche Situationen vor Augen geführt. Schauen wir sie uns nacheinander genauer an. Das im Büro anwesende Team zeigte sich solidarischer, als es die Abteilungsleiterin erwartet hätte. Was waren die Anreize zur Kooperation?

  1. Spielraum: Kooperation setzt ein gewisses Maß an Entscheidungs- und Handlungsfreiheit der Beteiligten voraus. Insofern ist es wahrscheinlich, dass ihr die Verhandlung mit der Schäftsleitung, 30% statt 50% einzusparen, den Boden für die Kooperationswilligkeit des Teams bereitet hat.
  1. Zielorientierung: Die Beteiligten sind in Bezug auf das Ziel voneinander abhängig und deshalb gefordert, gemeinsamen nachzudenken. Die dafür benötigte Fähigkeit bezeichnen Forscher*innen als „shared intentionality“. Das beschreibt die Spezialisierung von Menschen, zu erkennen, was in den Köpfen anderer vorgeht, um dann einen gemeinsamen Plan zu erstellen. Dabei interessiert es uns nicht nur, was andere denken, sondern auch, was die anderen über uns denken.
  1. Team-Geschichte: Das Team teilt eine gemeinsame Vergangenheit und wahrscheinlich auch eine gemeinsame Zukunft. Wir spielen also das Gefangenendilemma in mehreren Runden. Es liegen Erfahrungen über gelungene, Vertrauen schaffende Kooperation, aber auch über destruktive Aspekte von Zusammenarbeit vor. Das Team orientiert sich also an einer Tradition oder an den eigenen Teamstandards.
  1. Transparenz: Kooperation braucht Informationsaustausch. Dadurch entstehen gegenseitige Unterstützung und konstruktive Problemdiskussionen. Kooperation wird erprobt und Vertrauen in die jeweiligen Kooperationspartner kann sich entwickeln.
  1. Werte: Aufgrund der persönlichen Motivation Einzelner wird in einer Teamsitzung an Moralvorstellungen und Werten appelliert, die das Team eigentlich in guten Zeiten teilt. So entsteht im besten Sinne sozialer Druck. D.h. die Individuen werden an gegebenenfalls auftretende informelle Kosten oder Nutzen erinnert (Scham, Reue, Anerkennung, Vertrauensvorschuss, …).
  1. Kultur: Einzelne oder die Führungskraft transportieren in der Regel institutionelle Erwartungen, z.B.Werthaltungen, Einstellungen,Vertrauen in die Struktur der Organisation, in die Führung oder die Kultur.

Spieltheoretisch formuliert: Wenn unsere beiden Gefangenen im klassischen „Gefangenendilemma“ die Möglichkeit gehabt hätten, diese Aspekte umzusetzen, wäre die Wahrscheinlichkeit erheblich gestiegen, dass sie die für beide bessere, kurze Haftstrafe gewählt hätten. Diese kooperative, aber unsichere Strategie kann ein Individuum nur wählen, wenn es sich des sozialen Gewinns absolut sicher ist.

Coopetition: Ein interessanter Weg

Bei genauer Betrachtung ist festzustellen: Die Personen im Büro-Team waren auf keinen Fall selbstlos. Rationale Entscheidungen, schaffen es im optimalen Fall, eine Lösung zu finden, die das Beste für die Gruppe und für die einzelne Person darstellt. Anstatt Kooperation ohne Konkurrenz gelingt anscheinend manchmal die Verbindung von Kooperation und Konkurrenz. Es ist also an die anderen gedacht und gleichzeitig auch an mich selbst. Eine schöne Wortschöpfung für dieses Phänomen der freundschaftlichen Konkurrenz, ist der Begriff der „coopetition“. Dem Team ist es also gelungen, die richtige Balance aus cooperation und competition zu finden.

Egoismus am Telefon

Nun zur zweiten, ganz anderen Situation: Was ist bei der Kommunikation der Abteilungsleiterin mit den Einzelnen am Telefon passiert?

Wahrscheinlich ist es den Mitarbeitenden im Home-Office ähnlich ergangen, wie im Gefangenendilemma den Gefangenen, die in den getrennten Zellen von der Polizei befragt wurden. Alle in den sechs Punkten aufgeführten Erlebens- und Handlungsmöglichkeiten fielen weg und damit auch die Vergewisserung, dass Kooperation bzw. Coopetition tragfähig ist.

Die Kommunikation durch die Abteilungsleitung kann bereits dazu beigetragen haben, dass der Lösungsansatz eher als Anordnung wirkte. Zumindest aber die Tatsache, dass die Hälfte des Teams nicht mitdiskutieren konnte, schränkte ihren Handlungsspielraum deutlich ein.

Empathie für die Situation Einzelner und das Gefühl, an einem gemeinsamen Ziel zu arbeiten, sind am Telefon zuweilen schwer vermittelbar. Das Anknüpfen an eine gemeinsame Vergangenheit und Teamwerte könnte zu moralisch und fordernd wirken.

Wenn die sechs aufgeführten Aspekte nicht aktualisiert sind, fällt es leichter, sich eher auf die persönlichen Interessen zu fokussieren. Wir neigen dann dazu, in Gewinner*innen und Verlierer*innen Kategorien zu denken. Das Gefangenen-Dilemma zeigt: Die kooperative Strategie ist zu anfällig. Ich kann dabei alles Verlieren und am Ende dumm dastehen. Die anderen lachen sich dann ins Fäustchen. Ich bin 5 Jahre im Gefängnis und der andere nur eins. Insofern ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Mitarbeitende am Telefon den Vorschlag der Abteilungsleiterin, alle gleich zu behandeln, bevorzugen. Das ist im Grunde für das Team nicht Optimal, aber je nachdem, wie sich die Lage entwickelt, ist es für das Individuum die sicherste Lösung.

Vielleicht hätte eine der folgenden Ideen eher Commitment erzeugt:

  • Alle Mitarbeiter*innen in einem Raum versammeln, entweder physisch oder per digitaler Werkzeuge. So wären die Austauschmöglichkeiten kompletter.
  • Nicht die Abteilungsleitung informiert die Personen im Home-Office, sondern jeweils zugeordnete Kolleg*innen. So fällt der Hierarchie-Effekt weg. Die Lösung war eine Teamidee und könnte es über den Weg auch bleiben.
  • In der Folgewoche könnte die Teamsitzung mit der anderen Gruppe wiederholt werden. Die Ideen aus beiden Gruppen werden mit einer „Abgeordnetengruppe“ abgestimmt.

Schnell zu entscheiden in Remote-Teams bleibt eine Herausforderung.

Glücklicherweise braucht es nicht für jede Alltagsentscheidung das gesamte Team.

Vielleicht gönnt man sich für Entscheidungen von Tragweite doch etwas mehr Zeit und Gemeinschaft.

Text: Monika Eckern

Foto: iStock

Grafik: Andreas Kalischefski

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