Von „Besser als gar nichts“ zum Ideal?

Über das Verhältnis von Beratung und Digitalisierung

 

An einem kalten Tag entwickelt eine Gruppe Stachelschweine ein allen gemeines Wärmebedürfnis. Um es zu befriedigen, suchen sie die gegenseitige Nähe. Doch je näher sie aneinanderrücken, desto stärker schmerzen die Stacheln der Nachbarn. Da aber das Auseinanderrücken wieder mit Frieren verbunden ist, verändern sie ihren Abstand, bis sie die erträglichste Entfernung gefunden haben.

Bei dieser Parabel von Schopenhauer aus dem Jahre 1851 bietet der Philosoph die Interpretation gleich mit an: Die Stachelschweine repräsentieren die Menschen. Ihr Bedürfnis nach Solidarität und Gemeinschaft lässt sie die Nähe ihrer Mitmenschen suchen. Gleichzeitig werden sie aber von deren schlechten Charaktereigenschaften abgestoßen. Sie suchen nach der angemessenen Entfernung, in der beide Bedürfnisse bestmöglich befriedigt werden können.

Dieses immerwährende Ausagieren des für uns richtigen Verhältnisses von Nähe und Distanz liegt in Zeiten von Covid 19 nicht mehr nur in unserer Hand. Abstands- und Versammlungsregeln bestimmen den räumlichen Abstand, den wir zu unseren Mitmenschen einhalten müssen. Dies hat allerdings zur Folge, dass das Kontaktbedürfnis vieler Menschen nicht hinreichend gestillt wird.

In Zeiten des Lockdowns konnte zumindest das aus der Kontaktsperre resultierende Informationsdefizit (nicht jedoch das Nähebedürfnis!) in der Arbeitswelt ansatzweise kompensiert werden. Digitale Plattformen wurden in nie dagewesener Geschwindigkeit etabliert, um den notwendigen Informationsfluss und damit auch die Arbeitsfähigkeit von remote arbeitenden Teams aufrecht zu halten. Die zunächst als „besser als nichts“ identifizierten Tools lösten dann eine Welle aus, die gesellschaftliche und vor allem wirtschaftliche Systeme deutlich aufatmen ließen. Das Corona-Virus wirkte wie ein Brandbeschleuniger für die Digitalisierung. Endlich gab es aufgrund der Pandemie Entwicklungen, die digitalen Defizite in der bundesdeutschen Wirtschaft zu überwinden.

Die Trainings- und Beratungsbranche gehört zu denjenigen, die von den Folgen der Krise sehr stark betroffen wurde. Volle Auftragsbücher wurden innerhalb weniger Tage auf Null gesetzt. Ob Präsenzveranstaltungen in geschlossenen Räumen mit etwas größeren Gruppen wieder generell möglich sein werden, ist auch heute noch nicht abzusehen. Es scheint daher überlebensnotwendig zu sein, dass die Branche versucht, zu retten was zu retten ist, und sich dem Digitalisierungs-Hype anschließt: Online-Angebote wie Webinare, Online-Fragebögen, Learning-Nuggets wurden verstärkt auf den Markt gebracht, Formate wie E-Coaching, die schon vor der Krise auf den Markt drängten, etablieren sich zunehmend.

Vieles von dem, was vor der Krise undenkbar war, wird sich – hoffentlich – langfristig durchsetzen. Für eine Auftragsklärung bei einem bekannten Kunden wird man vielleicht nicht mehr von Köln nach Dresden fahren müssen. Lernformate und Seminare, die der Wissensvermittlung dienen, können online gestaltet werden und ein Coaching-Prozess kann grundsätzlich, und vor allem dann, wenn es um kurzfristige Erreichbarkeit geht, mit einzelnen Sequenzen auf Online-Portalen für beide Seiten effektiv gestaltet werden.

Folgt man aber dem, was gerade im Netz und in den einschlägigen Organen gehypt wird, so scheint die Face-to-Face Situation zwischen Berater und Klienten ein auslaufendes Modell zu sein. Es geht nahezu ausschließlich um Vorteile und Chancen der digitalen Begegnung. Die aus Zeit- und Ortsunabhängigkeit resultierende Wirtschaftlichkeit scheint als Argument hinreichend zu sein. Und natürlich geht es um „lebensweltliche“ Vorgaben: Technische Kompetenz reicht nicht aus. Nur wer das Digitale nicht nur beherrscht, sondern lebt, wird auf dem Berater- und Trainermarkt überleben können. Aus dem „besser als nichts“ scheint das Ideal schon hervor gegangen zu sein!

Da es kaum kritische Stimmen zu diesen Tendenzen gibt will ich hier – auch auf die Gefahr hin, als ewig gestrig zu gelten – ein paar Risiken dieser Entwicklung aufzeigen, und damit hoffentlich zu Austausch und Diskussion anregen.

Coaching und Digitalisierung

Im Face-to-Face Dialog stellt die sinnliche Wahrnehmung, wie das Hören der Stimme und der Zwischentöne oder das Sehen der unterschiedlichen körperlichen Regungen die Grundlage für ein empathisches Wahrnehmen und somit für das Verstehen des Gegenübers dar. Im Coaching-Prozess ist diese wechselseitige, ganzheitliche Wahrnehmung der Ausgangspunkt des Dialogs und der Entwicklung von Vertrauen.

Beim Onlinecoaching richtet sich die Aufmerksamkeit zwar vorwiegend auch auf das Sehen und das Hören, die Nahsinne des Riechens und des Tastens verschwinden sogar gänzlich. Das Sehen ist aber nur vermittelt vorhanden, da die Gesichtsmimik auf dem Bildschirm lediglich reduziert wahrgenommen werden kann. Unbewusst kontrollieren sowohl Coach als auch Coachee ihre Mimik, wenn sie sich selbst beim Reden oder Schweigen beobachten. Körperliche Reaktionen wie die Sprache der Hände oder das Übereinanderschlagen der Beine entziehen sich dem Blickfeld und können nicht wahrgenommen werden.

Damit kommt im Online-Coaching der Stimme die größte Bedeutung zu. Sie ist dann das einzige Medium, das Schwingungen transportiert, unbewusstes Wissen offenbart und somit das einzige Hilfsmittel für den Coach, gemeinsam mit dem Klienten das „Thema hinter dem Thema“ zu erkunden.

Im Präsenz-Coaching gibt es natürlich auch die Orientierung an der im Auftrag formulierten Zielsetzung. Allerdings erlaubt die ganzheitliche Wahrnehmung immer einen Wechsel der Richtung des Dialogs. Methoden und Gesprächs- bzw. Fragetechniken des Coaches sollten passend zu der jeweiligen Situation eingesetzt werden, und nicht umgekehrt. Aus diesem Dialog entstehen Entwicklungsimpulse für den Klienten.

Im E-Coaching auf virtuellen Plattformen muss der Coach sehr versiert und erfahren sein, wenn er nicht der Logik des Programms erliegen möchte. Es können natürlich in der virtuellen Welt kreative, überraschende und für die Reflexion des Klienten hilfreiche Momente entstehen. Ob aber, wie etwa bei dem Coaching-Spaziergang durch virtuelle Räume mit direktiven Aufforderungen durch den Coach, ähnlich frei flottierende Gespräche entstehen können wie bei dem Coaching-Spaziergang in der Natur, ist zumindest fraglich.

Teamentwicklung online

Für remote arbeitende Teams oder für international zusammengesetzte Projektgruppen sind Online-Formate für Konferenzen, Projektmeetings und die Gewährleistung des Informationsflusses natürlich unverzichtbar. Der Aufwand für die sachlich-fachliche Zusammenarbeit kann durch den Verzicht auf Präsenz-Meetings erheblich reduziert werden. Die Effizienz der Online-Meetings wird vielfach sogar höher eingeschätzt als Face-to-Face Situationen. Aber es gibt neue Störfaktoren: funktioniert die Technik nicht 100%tig, bleiben Gesichter stehen, der Ton ist verzerrt oder kommt verspätet an. Die Gesichtsmimik ist deutlich reduziert, anders als im Präsenz-Meeting ist aus oft ausdruckslosen Gesichtern kaum ablesbar, ob jemand engagiert zuhört oder nicht. Nonverbale Hinweise auf Störungen sind nur schwer zu identifizieren. Und Hand aufs Herz, haben Sie nicht auch schon mal während eines Online-Meetings „heimlich“ Ihre Mails auf dem Smartphone gecheckt oder die neuesten Corona-News gelesen?

Wenn es aber nicht nur um rein fachliche Aspekte der Zusammenarbeit, sondern um ganzheitliche Aspekte der Teamentwicklung geht, dann gerät unabdingbar auch die Beziehungsdynamik, der Umgang mit Emotionen und Störungen in den Fokus. Und spätestens jetzt kommen Online-Formate an Ihre Grenzen. „Dicke Luft“, „heiße Eisen“, „lautes Schweigen“, „befreites Aufatmen“, „nervöse Anspannung“ und „entspanntes Zurücklehnen“: Das sind allesamt körperlich-sinnliche Wahrnehmungen, die Resonanz erzeugen und dem Berater/ Moderator wichtige Informationen über die aktuelle Situation im Team geben. Aus diesen Informationen resultieren wesentliche Impulse für Interventionen und Rückmeldungen an Einzelne oder das gesamte Team. So kann ein co-kreativer Prozess entstehen, in dem sich das Team mit dem Moderator auf die Suche nach den versteckten und unangenehmen Themen begibt. Ein Austausch über diese Themen scheint in der klinisch sauberen Atmosphäre des Online-Meetings kaum möglich. Bleibt er aus, wächst die Gefahr, dass sich Störungen „durch die Hintertür“ in die fachliche Zusammenarbeit einschleichen und diese empfindlich beeinträchtigen können.

Ein weiterer Aspekt in der Bewertung von Online-Meetings oder der Online-Teamentwicklung wird häufig übersehen, nämlich die Bedeutung des informellen Austauschs der Teilnehmenden zwischen Tür und Angel, beim gemeinsamen Mittagessen oder bei der Kaffeepause. Gerade daraus resultieren oftmals wichtige Impulse für das Miteinander im Team, für Absprachen zur Zusammenarbeit oder auch für Reflexions- und Veränderungsprozesse in der Organisation.

Ausblick

Digitale Formate sind in der Beratungsbranche ebenso wenig wegzudenken wie in der gesamten Arbeitswelt. Ob sie da, wo bisher resonanzstiftende, ganzheitliche Begegnungen die Basis für die Entwicklungsimpulse für Individuen oder Teams sind, einen annähernd vollwertigen Ersatz bilden können, ist für mich fraglich.

Aktuell scheinen die Kontakteinschränkungen die Sehnsucht nach authentischen Begegnungen trotz der digitalen Entwicklungen eher zu verstärken. Gerade in den IT-Unternehmen bevorzugen die Führungskräfte das Angebot des Face-to-Face-Coachings gegenüber den ebenfalls angebotenen Online-Coachings. Es ist allerdings zu erwarten, dass die nachrückende Generation der Digital Natives dieses Verhältnis zumindest verändern wird.

Letztendlich wird es die Zukunft zeigen, welche Formate für welche Anlässe die geeigneten sein werden. Heute ist noch gar nicht abzusehen, welche Transformationen wir bewältigen werden und wie sich die Beratung- und Trainings- und Bildungsbranche weiter entwickeln wird.

Wir tragen unseren Beitrag dazu bei und stellen uns den Herausforderungen! Online und offline! Demnächst mehr!

Text: Jürgen Vieth

Fotos: iStock (www.fotogestoeber.de)

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